Eine Zahngeschichte und das Drumherum

Wenn man älter wird, dann wird leider auch das eigene „Ersatzteillager“ immer größer. Man kann es auch anders sehen, nämlich, dass man im Laufe der Zeit immer kostbarer wird.
So ergeht es mir jetzt auch im Augenblick. Die Chemotherapien der vergangenen Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Nicht, dass ich mich darüber beschwere, nein – es ist eben, wie es ist. Meine Zähne haben darunter gelitten bzw. der Kieferknochen ist „weich“ geworden, was zur Folge hatte, dass die Zähne nach und nach locker wurden. Einige wurden nur locker – andere entzündeten sich dabei, so dass sie gezogen werden mussten. Nach und nach musste ich mich so von allen Backenzähnen im oberen Kiefer trennen – die letzten 3 meldeten sich 2013 zwei Tage vor meiner großen OP und ich musste in einer Not-Zahn-OP mich von ihnen verabschieden. Der OP-Termin wurde sogar aufgrund der Zahnentzündung um eine Woche verschoben.
Meinem Zahnarzt ist meine Krankengeschichte bekannt und er geht sehr rücksichtsvoll mit mir um. Einerseits kann ich sofort wenn sich bei mir ein Zahn meldet zu ihm kommen, andererseits will er so gar nicht an die Erneuerung des Zahnbildes denken. Er hat mir immer wieder erklärt, dass nach seiner Erfahrung her, Zahnbehandlungen (sei es Paradontose-Behandlung, Zahn-Extraktionen etc.) frühestens ein halbes Jahr nach Beendigung einer Chemotherapie erfolgen können. Zum einen greife die Chemo den Kieferknochen an, zum anderen stresst den Körper jegliche Art von Zahnbehandlung. Er steht auf dem Standpunkt, dass sich der Körper erst einmal wieder erholen soll von der vorausgegangenen Therapie , bevor er wieder einem Stress ausgesetzt wird. Ich hätte ja noch die Möglichkeit, mit meinen vorderen Schneidezähnen zu beißen und zu kauen. Von seiner Seite aus bestehe kein Handlungsbedarf.
Nach Beendigung meiner letzten Chemo habe ich Tacheles mit ihm geredet. Ich bin es leid. Seit nunmehr 3 Jahren kann ich nicht mehr richtig kauen, abbeißen. Einiges kann ich gar nicht mehr essen (z.B. Nüsse), Lachen aus vollem Herzen geht auch nicht mehr (da man die Zahnlücken sehen kann). Gut, mein soziales Umfeld weiß Bescheid, aber unangenehm ist es mir doch. Wer weiß, wenn ich wieder ½ Jahr warte, dann steht vielleicht wieder die nächste Chemo ins Haus und dann wird die Erneuerung meines Gebisses um ein weiteres Jahr verschoben.
Im oberen Kiefer hatte ich noch drei Zähne, die eine Brücke hielten und im unteren Kiefer waren inzwischen schon wieder 3 Zähne locker geworden, u.a. mein letzter Backenzahn auf der rechten Seite war chronisch entzündet.
Mein Zahnarzt ließ sich überreden und schickte mich mitsamt einem Röntgenbild und meiner Krankengeschichte zum Kieferchirurgen ins 70 km entfernte Oldenburg. Beide kennen sich aus gemeinsamer Arbeitszeit an der Uni-Zahnklinik bevor sie sich entschlossen, selbständig tätig zu werden. Dieser Chirurg hatte sofort mein Vertrauen, da er den vorgesehenen Eingriff eingehend schilderte, sehr genau hinterfragte und zu dem Ergebnis kam, dass er die Extraktion in Anwesenheit eines Narkosearztes wie vorgesehen eine Woche später vornehmen würde. Gesagt – getan. Als der große Tag kam, war ich überraschend ruhig. Angst hatte ich kaum, da ich jetzt nur noch glücklich war, dass es endlich losging. Die Nachsorge-Behandlung übernahm am nächsten Tag mein Zahnarzt wieder, so dass ich mir die 70 km sparen konnte.
Überrascht von dem guten Verlauf ohne Komplikationen war er sehr zufrieden und bestellte mich 14 Tage später wieder ein – sollten zwischenzeitlich Probleme auftreten konnte ich sofort anrufen und kommen.
Endlich waren 14 Tage vorbei und ich hoffte, dass es nun losgehen würde: Abdruck, Anpassung, Einsatz der Prothese. Aber nein – erst noch einmal 14 Tage warten. Der Kiefer soll komplett verheilen, bevor weitere Tätigkeiten und Strapazen auf ihn zukommen!
Das hieß nun für mich: 4 Wochen Brei essen, da die Brücke oben auch entfernt worden war, lief ich als „zahnlose“ Oma durch die Gegend.
Die erste Woche ging ich gar nicht raus. Mein Mann kaufte ein, ging mit dem Hund und ich ließ mich draußen nicht blicken. Ab der 2. Woche ging ich morgens wieder mit dem Hund und wickelte mir einen großen Schal so um den Hals, das ich diesen jederzeit vor den Mund ziehen konnte, wenn mich jemand ansprach und ich antworten musste. Meine Bekannten und Nachbarn wussten Bescheid, meine sozialen Kontakte schränkte ich enorm ein. Nur mit meinen Rommé-Frauen spielte ich, denn beide Damen tragen ebenfalls Gebiss, hatten diese ganze Geschichte schon selbst erlebt und hatten Verständnis – wir waren ja auch unter uns Frauen. Mit Männern außerhalb der Familie hatte ich in dieser Zeit keinen Kontakt. Mit dem Mann meiner Freundin sprach ich nur, wenn es nicht anders ging und hielt dabei meinen Schal vor den Mund. Zum Einkaufen ging mein Mann mit, damit er dann antworten konnte, wenn eine Frage zu klären war.
Alle akzeptierten meine Scham und verstanden, dass ich mich nicht so wohl fühlte. Wir hatten in dieser Zeit keine Gäste, bis darauf, dass die Kinder mit Enkel uns Ostern für 1 ½ Tage besuchten – aber das ist ja Familie. Und so viel wie sonst habe ich auch nicht gesprochen.
Wir kennen ein Ehepaar aus der Nachbarschaft mit denen wir im Sommer des öfteren zusammen gegrillt, in der kälteren Jahreszeit uns zum Nachmittagskaffee getroffen haben und die ich über meine Situation auch aufgeklärt hatte, versehen mit der Bitte um Verständnis, dass ich in dieser Zeit keine Einladungen ausspreche oder annehme. Für mich nicht nachvollziehbar ist, dass der Nachbar absolut kein Verständnis zeigte.
Am Tag nach dem Zahnziehen wollte er mir einen „Krankenbesuch“ abstatten. Mein Mann hielt ihn aber mit den Worten ab, dass ich nicht sprechen könne und auch keinen Besuch haben wolle. Sobald mein Mann das Haus verließ, rief ER bei uns an, denn nun war er sich sicher, dass ICH ans Telefon ging. War mein Mann zu Hause, ging mein Mann ans Telefon. Bei diesem Anruf gab er mir zu verstehen, dass er es albern finde wie ich mich benehme und ihn nicht sehen wolle. Ich erklärte ihm meine Situation noch einmal und blieb dabei.
Und dann kam dieser besagte Tag……
Ich putzte meine Fenster und das Ehepaar fuhr mit dem Rad an unserem Haus vorbei. Sie hielten an und ich winkte. Er rief quer über die Straße mir zu: Stell dich doch nicht so an, als Baby hattest du auch keine Zähne.
Ich machte nur noch das Fenster zu und war total beleidigt. Ich fand es total unangebracht, dass er so laut über die Straße rief. Ob jemand aus der Nachbarschaft es gehört hat, kann ich nicht sagen. Aber ich fand es einfach nur ungehörig.
Eine Woche später –ich kam mit dem Hund nach Hause – saß er bei uns im Wohnzimmer und sprach mit meinem Mann. Nach einer zurückhaltenden Begrüßung meinerseits bat er mich um ein Gespräch und bemängelte, dass ich mich so zurückgezogen habe. Daraufhin habe ich ihm mitgeteilt, dass ich sein Benehmen sehr ungehörig fand und dass er meinen Wunsch zu respektieren habe, wenn ich momentan aufgrund dieser speziellen Situation das Bedürfnis habe, mich etwas zurückzuziehen.
Er reagierte daraufhin so beleidigt, dass er aufstand und ging und mir mein Verhalten als kindisch vorwarf.
Ich bin so sauer und es hat mich so verletzt, dass ich beschlossen habe, mich ganz von ihnen zurückzuziehen.
Heute ist es nun endlich so weit. Die Anprobe-Woche habe ich hinter mir. Das obere Gebiss wird erst einmal eine Interims-Versorgung sein, da der Zahnarzt davon ausgeht, dass der Kiefer sich im Laufe der Zeit evtl. noch einmal verändert. Er steht auf dem Standpunkt, dass es dann zu einer Änderung kommt, die man aus Kostengründen bei einem Endmodell nicht vornehmen würde.
Das Gebiss sieht so echt aus als wäre es schon die Endlösung, nur dass es nicht so teuer ist.

Wer in die Fußstapfen anderer tritt, hinterlässt keine eigenen Spuren (Wilhelm Busch)

Kommentare 2

  • Oh, liebe tergea, du Schatz! Danke für deine Worte.
    Stell dir mal vor, das "Verhältnis" liegt immer noch auf Eis und ich vermisse rein gar nichts.
    Wer den Schaden hat, das ist er, denn seine sozialen Kontakte waren nur auf uns beschränkt.


    Im übrigen komme ich jetzt prima mit meinen "Zweiten" klar!

  • Meine Liebe hagy, du hast wirklich ne Menge ertragen müssen. Da fehlte so ein unsensibler Mensch grade noch... Wenn ich es mal so deutlich sagen darf: sch..... drauf! Halt dich an die, die dir verständnisvoll begegnet sind.
    Und das meint ausgerechnet die, die ungefragte "Ratschläge" eigentlich ablehnt...:wink:
    Du bist eine ganz Tapfere!
    LG, tergea